Interview mit Hermann Haring zum 40-jährigen Jubiläum

Vor 40 Jahren wurde die „Bauhütte“ gegründet (später auch „Projekt Meiga“ genannt) aus dem später sowohl das ZEGG als auch Tamera in Portugal hervorgingen. Aus diesem Anlass unterhielt sich Mara Löffler mit Hermann Haring, der 1978 zur Bauhütte kam, bis heute im ZEGG lebt und das diesjährige Sommercamp im ZEGG konzipierte.

M: Was hat dich damals ins »Projekt« bewegt, gezogen, gerufen?

H: Ich hab schon als Kind darüber nachgedacht, wie eine Welt aussehen könnte, in der es
keine Gewalt gibt. Und ich war auf der Suche nach einer anderen Lebensweise. Wobei mir damals noch nicht so bewusst war, dass es dabei um die Liebe ging. Ich glaube aber, dass auch das mich intuitiv ins Projekt geführt hat.

M: Wie alt warst du da?

H: Ich war 31 Jahre alt, als ich in die Bauhütte gekommen bin.

M: Und du hattest wahrscheinlich noch keine konkreteren Vorstellungen davon, wie eine solche gewaltfreie Welt aussehen könnte?

H: Nein, die hatte ich nicht. Ich war über vieles, was in der Welt passierte, einfach verzweifelt. Über das Ausmaß an Gewalt und die zunehmende ökologische Zerstörung.

M: Wie hast du von der „Bauhütte“ erfahren?

H: Auf einer Party in Heidelberg habe ich den damaligen Verleger von Dieter Duhm kennengelernt, der mich und meine Frau zum Essen einlud. Ich habe ihn gefragt, was er denn eigentlich verlege. Er mir daraufhin einen Stapel Bücher geschenkt. Zuhause, vor dem Einschlafen, habe ich das erste Buch vom Stapel genommen, das war „Synthese der Wissenschaft“ von Dieter Duhm. Das habe ich dann in einem Zug durchgelesen. Am nächsten Tag habe ich den Verleger angerufen und ihn gefragt, wie ein Mensch lebt, der so ein Buch schreibt. Da antwortete er: »Der macht ein Projekt in der Nähe von Heilbronn, da fahre ich am Wochenende hin. Komm doch mit!« Als ich dort reinkam, sagte das, was ich heute innere Stimme nenne, ganz deutlich: Das ist es. Die Ideen, die ich kennengelernt habe, haben mich so fasziniert, dass ich bald eingezogen bin. Vor allem der Gedanke, dass es möglich sei, in der Liebe eine ganz neue Form zu finden - und dass das, was wir in der Liebe als gängige Praxis kennen, kein Schicksal ist, sondern eine kulturelle Vereinbarung. Und der Versuch, einen Entwurf für eine gewaltfreie Gesellschaft zu machen und diesen so direkt wie möglich in die Praxis zu übertragen.

M: Gab es denn damals eine skeptische oder vorsichtige Stimme in dir? Die vielleicht meinte, das sei zu schön, um wahr zu sein?

H: Nein. Es gab eine große Klarheit, dass ich da mitmachen möchte. Ich war auch an einem Punkt in meinem Leben, wo ich etwas Neues brauchte.

M: Dann bist du also eingezogen und für ein paar Jahre geblieben? Ich weiß nicht viel über diese Anfangszeit — aber aus dem Projekt sind ja dann unter anderem das ZEGG und Tamera hervorgegangen.

H: Ja. Die »Bauhütte« ist 1978 gegründet worden. Unter der Federführung von Dieter Duhm ist das Ganze entstanden. Sein Gedanke war, zu erforschen, wie eine Gruppe von Menschen gut zusammenleben kann, was an Schwierigkeiten passiert und am Beispiel dieser Gruppe das ganze „menschliche Thema“ zu sehen. So ist das Gemeinschaftsprojekt Bauhütte entstanden. Es bestand in der Nähe von Heilbronn bis Ende 1983; dann sind wir umgezogen in den Südschwarzwald nach Schwand, weil die Gruppe so gewachsen war. Dort gab es bis Ende der achtziger Jahre das sogenannte soziale Experiment. Das war nochmal eine Intensivierung. Wir haben gesagt, die 40 Leute, die jetzt dabei sind, bleiben drei Jahre zusammen - und es kommt alles auf den Tisch, was uns bewegt. Das war eine sehr verbindliche Gruppe, es sind nur ein oder zwei Menschen gegangen in dieser Zeit. Einige Jahre später, etwa ab 1987/88, wurde klar: Es braucht etwas Neues. Das Ganze war weiter gewachsen, aber es war noch unklar, was, wie und wo anders werden sollte. Viele Leute haben sich dann am Bodensee angesiedelt und aus diesem Umfeld heraus entstand die Idee, ein gemeinsames, großes Zentrum zu gründen. Das wurde dann das ZEGG. Wobei Dieter Duhm und Sabine Lichtenfels kurz zuvor sagten, sie würden dort nicht leben, sie suchten für ihre Forschung nach mehr Ruhe. Sie arbeiteten dann auf den Kanarischen Inseln und gründeten 1995 das Heilungsbiotop „Tamera“ in Portugal.

M: Wie war das damals für die Menschen, die sich für das ZEGG entschieden hatten, dass Sabine Lichtenfels und Dieter Duhm gar nicht dort leben würden?

H: Das ZEGG entstand zur einen Hälfte aus Menschen, die sich bereits aus Schwand kannten, und aus weiteren 40, die noch nicht so miteinander gelebt hatten. Die zweite Hälfte hatte Dieter Duhm gar nicht miterlebt. Ich selbst war anfangs nur ein Jahr im ZEGG und dann für drei Jahre in der Nähe von Hannover, in einem kleineren Gemeinschaftsprojekt. Ja, wir standen im ZEGG vor der Frage, wie es weitergeht, denn plötzlich war klar: Eine Leitungsperson, wie es sie in der Bauhütte vorher gab, wird es im ZEGG nicht geben. Das hatte den Nachteil, dass auch die geistige Kompetenz von Dieter Duhm nicht mehr zur Verfügung stand, diese Größe des Denkens. Das musste jetzt die Gemeinschaft hervorbringen. Auf der anderen Seite lief nun ungeplant das Großexperiment: Wie funktioniert Gemeinschaft mit einer ganz flachen Hierarchie?

M: Das ist für mich eine wichtige Frage: Wie hat sich das angefühlt, dieser Schwenk von einer sehr hierarchischen Struktur, mit einer klaren Leitung und Führung, hin zu einer flachen Hierarchie, die die Gemeinschaft erst lernen muss?

H: Ich stand während der Bauhüttenzeit in einem klaren Lehrer-Schüler-Verhältnis zu Dieter Duhm. Und das habe ich geliebt, in dieser Rolle zu sein und so viel lernen zu dürfen. Für das ZEGG hieß dieser Schwenk letztendlich, sich zu fragen: Wie weit sind wir jetzt gekommen? Das ZEGG hat dann im Lauf der Jahre Inspiration durch andere Einflüsse bekommen, z.B. durch die indianisch-schamanische Strömung. Das war ein weiteres Ordnungsprinzip, aus dem wir viel gelernt haben. Auch die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) wurde als verwandte geistige Linie mit aufgenommen. Es war stets ein Ziel der Bauhütte, etwas zu schaffen, wo es keine Hierarchien mehr geben muss. Der entsprechende Lehrsatz in Schwand hieß: Wir wollen keine Gemeinschaft von Jüngern sein, sondern von gemeinsam Denkenden. Dieter Duhm ist ein sehr radikaler und großer Denker, das hat es nicht einfach gemacht. Ich war da auch gefordert, die Dinge zu benennen, vor denen ich mich drücke. Was ist eigentlich meine Wahrheit und mein Ziel im Leben? Wie will ich grundlegend etwas verändern und wie könnte eine neue Welt aussehen? Ich habe in dieser Zeit gemerkt, dass solche Fragen mich sehr tief bewegen. Ich habe verstanden, dass der Mensch sich von Grund auf verändern muss, damit die Welt sich verändert.

M: Und kann!

H: Und kann, ja. Danke. Dass diese Möglichkeit zur Veränderung als Potenzial in jeder und jedem von uns angelegt ist. Einer der heißen Punkte im Projekt war von Anfang an, dass Liebe und Sexualität einbezogen waren, dass wir sie sogar als sehr zentral empfunden haben. Also neben der Sinnfrage auch die Frage des Eros. Das war auf der einen Seite etwas Faszinierendes und auf der anderen Seite etwas, das viele Menschen abgeschreckt hat. Mensch lebt oft mit einer inneren Übereinkunft, an bestimmte Dinge nicht zu rühren. Und wenn dann einer kommt und sagt, da, da und da ist etwas... In Sachen Liebe und Sexualität ist in vielen Leben so viel Enttäuschung und Verzweiflung passiert - was wir da alle mit uns rumschleppen!

M: Was lässt dich bis heute im ZEGG bleiben?

H: Ich habe hier viele Möglichkeiten, mich zu entfalten. Es ist ein sehr freiheitlicher Ort, ein sehr schöner Ort - und ich habe Freunde hier. Es gibt eine gemeinsame Aufgabe, die wir uns gestellt haben, zum Beispiel den Gemeinschaftsaufbau, der auch meiner Idee von Zukunft entspricht.

M: Und wie ist es für dich, im ZEGG älter zu werden?

H: (Überlegt) Ja, besser hier als anderswo (lacht). Solange ich noch einen Beitrag zum Ganzen leiste, fühle ich mich am richtigen Platz. Es gibt hier Menschen in meiner
Altersgruppe, die mit mir älter werden. Ob ich für den Rest meines Lebens hierbleibe - solche Fragen kann ich gar nicht beantworten, dafür ist die Welt viel zu sehr in Bewegung. Ich bin auch hier, um zu verstehen, was die Situation eigentlich hervorruft, in der wir als Menschen heute sind. Welche innere Zerstörung schafft diese äußere Zerstörung? Und so lande ich bei den inneren Themen, wo ich z.B. Enttäuschung erlebt habe, immer wieder verlassen wurde oder mit einer Wut rumlaufe, weil ich eingezwängt worden bin. Es gibt nicht ein paar böse Menschen, die man entsorgen muss und dann ist die Welt schön. Das Ganze bringt sich ständig selbst hervor, aus unseren Gedanken und Emotionen, das alles formt sich zu den Ereignissen, wie wir sie dann erleben. So würde ich mein Weltbild beschreiben. Und das heißt, du musst im Inneren Frieden schaffen, um ihn Außen schaffen zu können. Du kannst aber natürlich parallel dazu anfangen, Strukturen zu entwickeln, die das fördern - Gemeinschaft zum Beispiel, weil sie die Erfahrung von Vertrauen und Verbundenheit schaffen kann: Miteinander sein mit allem, was lebt.

M: Und was nährt dich, was gibt dir am meisten Kraft? Weil du ja viel arbeitest und viel Energie und Zeit in die Gemeinschaft gibst. Was lässt dich heilen und wachsen?

H: Die Vision einer anderen Zukunft - auch wenn sie mir manchmal abhanden kommt (lacht). Ja und da, wo ich merke, dass das, was ich möchte, dem Ganzen dient. Zum Beispiel bei der Vorbereitung des Sommercamps, wenn ich das gedankliche Konzept entwickle und dabei weiß, dass das Thema für alle interessant ist. So etwas nährt mich.

M: Im April hatte Tamera anlässlich des 40. Geburtstages zu einer Feier eingeladen. Wie war es für dich, dort zu sein? Wie ist dein Blick auf Tamera und Dieter Duhm heute?

H: Die Zeit dort war sehr schön. Ich habe viele Menschen wiedergesehen, die mir etwas bedeuten. Es war ein bewegendes Zusammentreffen und es entstand ein starkes Gemeinschaftsfeld. Mich selbst hat es daran erinnert, was unser Experiment damals ausgemacht hat - und wie es sich angefühlt hat. Und dass es für mich darum geht, mich neu mit meinen Visionen zu verbinden und daraus die Kraft zu schöpfen, auf eine gute Art älter zu werden. Wir waren ungefähr 200 Menschen, die alle in ihrem Leben mit Gemeinschaft Kontakt hatten. Und egal, wie sie heute leben, wir hatten alle etwas gemeinsam. Das ist zum Klingen gekommen. Dieter Duhm hat in Tamera noch immer eine starke Rolle. Er sagt immer noch: „Stop, lasst uns anschauen, was hier gerade passiert“, wenn er das Gefühl hat, es passiert etwas, das dem Ganzen nicht zugute kommt. Ich bin froh, dass es ihn noch gibt, weil seine geistige Kraft Dinge bewegt. Tamera ist ein sehr großes Projekt geworden, das auch international viel bewirkt. Das ist toll. Sabine Lichtenfels mit ihrer politisch spirituellen Arbeit und ihrem weiblichen Wissen ist ein ganz eigener Pol geworden - und viele andere, die herangewachsen sind, insbesondere unter den jungen Leuten, schaffen dort eine lebenswerte Zukunft.